Das Verlagsprogramm

Von Prof. Dr. Axel Beer

Eine über 250 Jahre hinweg andauernde Familientradition zu bestaunen ist das Eine – eine einigermaßen befriedigende Antwort auf die Frage zu geben, was die Firma während dieser langen Zeit eigentlich im Einzelnen gemacht und vor allem publiziert hat, das Andere, wobei es mit dem oft genug wiederholten Verweis auf die Namen Mozart, Senefelder (als Erfinder der Lithographie) und natürlich Goethe, der gerne bei Andrés verkehrte, nicht getan ist. Wir versuchen es in komprimierter Form: Das Haus André veröffentlichte in einem Kernzeitraum von 160 Jahren rund 18000 Notendrucke – Kompositionen vom kleinen Lied bis hin zur dicken Opernpartitur, vom Tänzchen bis hin zur ausgewachsenen Sinfonie. Originalausgaben (also vom Komponisten autorisiert, der ein Honorar erhielt bzw. später auch am Gewinn beteiligt sein konnte) sind ebenso vertreten wie Nachdrucke zumeist ausländischer Produkte und nicht zuletzt ein überaus buntes Spektrum von Bearbeitungen. Die Zahl der Komponisten (und ganz wenigen Komponistinnen) hat seltsamerweise noch niemand ermittelt – wenn man einmal ganz vorsichtig die Größenordnung mit etwa 1500 benennt, liegt man sicher nicht vollkommen daneben. Natürlich finden sich die allbekannten Namen: Mozart, in einer Reihe mit den damals renommierten Wiener und Pariser Komponisten stehend, ist schon vor dem Deal mit der Witwe mit etlichen (meist postumen) Erstausgaben vertreten, denen sich, da seine Musik auf wachsende Gegenliebe stieß, eine große Menge an Arrangements für die unterschiedlichsten Ansprüche und Besetzungsformen anschloss. Seit 1803 und bis in die 1840er Jahre hinein erschien auch fast das gesamte Oeuvre Ludwig van Beethovens in der Originalversion sowie gleichfalls in vielerlei Bearbeitungen bei André, wobei die jeweilige und zumeist nicht unkomplizierte eigentumsrechtliche Situation (ein Urheberrecht gab es noch nicht) die Abfolge bestimmte, sodass etwa die zuerst in Leipzig, Bonn und Mainz mit Autorisierung des Komponisten publizierten Werke zunächst außen vor blieben. Die sogenannte Wiener Klassik ist also nicht nur quantitativ sehr prominent vertreten. Ihre spätere Rezeption als die eigentliche Grundlage des (bürgerlichen) Verständnisses von musikalischer Hochkultur geht wesentlich vom Haus André in Offenbach aus, das sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts denn auch gezielt der Musik Joseph Haydns annahm sowie später das Vermächtnis jener Meister noch einmal mit blockweise publizierten Neuausgaben präsentierte.

Dagegen kommt das, was wir uns als musikalische Romantik zu bezeichnen angewöhnt haben, nur marginal vor: Werke von Schubert, Chopin, Schumann und Mendelssohn Bartholdy begegnen zudem erst seit den 1860er Jahren in relativ geringer Zahl, wobei die postume Erstausgabe der Konzertstücke op. 113 und 114 (1869) des Letzteren, freilich eine Ausnahme, nicht unerwähnt bleiben darf. Ebenfalls sei nicht verschwiegen, dass – aus welchen Gründen auch immer – Johannes Brahms und Franz Liszt nicht mit einer einzigen Note im Verlagsprogramm vertreten sind.

Essentiell war dagegen für den Verlag, kontinuierlich modisch-unterhaltende und nicht zu schwere Klaviermusik bieten zu können. Gerade hierbei brauchte es verlässliche Lieferanten, die nicht nur individuell geformte Originalstücke in der Art der ungemein facettenreichen „Salonmusik“ beizusteuern wussten, sondern auch in der Lage (und sich nicht zu schade) waren, den dauerhaften Appetit des musikliebenden Publikums nach Bearbeitungen zu stillen. Der Frankfurter Musiklehrer Heinrich Cramer zählte zu jenen unverzichtbaren Zeitgenossen: Er bereitete all die Lieblingsmelodien vorwiegend aus dem zeitgenössischen Opernrepertoire zwischen Rossini und Verdi zu wohldosierten Häppchen auf, die – teils speziell auf die Erfordernisse im Musikunterricht berechnet – innerhalb mit wohlklingenden Titeln (Perles mélodiques, Fantaisies élégantes, Le jeune Pianiste) ausgestatteten Editionsreihen erschienen, die ihrerseits die Kundenbindung intensivierten. Die für das Haus André so essentielle Bearbeitungspraxis umfasste daneben auch vielfältige kammermusikalische Besetzungen –manche „favorites“ gab und gibt es in um die 30 Versionen, und auch hierfür konnte man auf Spezialisten zurückgreifen: Johann Georg Busch beispielsweise, ein Offenbacher Musiklehrer, fertigte mehr als 250 Opernbearbeitungen unterschiedlichster Art an; auch sie waren in Reihen mit klangvollen Namen versammelt – Apollo etwa und Orpheus – und gewährleisteten die musikalische Grundversorgung auf diesem enorm wichtigen Sektor.

Ohne eine intensive Beobachtung des nationalen, internationalen sowie auch lokalen und regionalen musikalischen Geschehens, zudem ohne ein professionelles Gespür für Entwicklungen, Moden und Tendenzen sowie für vielversprechende Talente hätte der Musikverlag André freilich nicht überlebt. Die differenzierten Überlegungen, die der Entscheidung zugrunde lagen, ein Werk ins Programm aufzunehmen oder darauf zu verzichten, erschließen sich dem späteren Betrachter oft nur mühsam – jedenfalls war die Beziehung mit dem Wormser Komponisten Carl Haine offenbar für beide Seiten nützlich, ebenso wie diejenige zu Friedrich Gackstatter, der, aus Franken stammend, in Bukarest eine Anstellung gefunden hatte, wo er zweifellos nicht nur mit den eigenen Werken für seinen Offenbacher Verlag Reklame machte. Manche Zufallsbekanntschaft kam hinzu wie die Engländerin Charlotte Oliver, die in den 1860er Jahren mehrere Dutzend Klavierstücke bei André veröffentlichte, unter ihnen solche, die auf prominente deutsche Kurorte (auch solche in der Nachbarschaft) Bezug nehmen – die Ausgaben waren dem Verlag so wichtig, dass er sie mit überaus attraktiv gestalteten Titelseiten ausstattete. Und wenn schon von der Nachbarschaft die Rede ist: Was sich an den musikpädagogischen Einrichtungen in Frankfurt – der dortigen Musikschule und dem Hochschen Konservatorium etwa – tat, strahlte unmittelbar aus: Wilhelm Hill, Iwan Knorr und Bernhard Sekles, seinerzeit prominente Lehrer dort, seien nur stellvertretend für die vielen Kollegen in Wiesbaden, Mainz, Darmstadt und anderswo genannt, deren Werke (auch) in Offenbach erschienen und hinsichtlich ihres zumeist gehobenen Anspruchs und der vielfältigen Besetzungsformen seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zusätzliche Facette beisteuerten wie auch neue Kundschaft anlockten.

Was noch erschien und ebenfalls essentiell für das Haus wie auch repräsentativ für das musikalische Geschehen insgesamt war: Natürlich durfte weder das Erwachen des Löwen von Anton Kontski, Josef Ivanovicis Donauwellen sowie natürlich Das Gebet einer Jungfrau von Thekla Badarzewska im Verlagsprogramm fehlen – allesamt internationale Hits, zu denen sich solche aus der Region gesellten, wie sie, als eigentliche Schlager, etwa in mancher Äppelwoi-Kneipe erklangen und mitunter für Mandolinen- und Zither-Vereine aufbereitet wurden. Fehlen durfte auch nicht die Spannung darauf, was André – natürlich rechtzeitig, damit genug Zeit zum Üben blieb – an neuer Weihnachtsmusik anbieten würde, für spezielle Sportveranstaltungen vorrätig hatte sowie natürlich für diverse Familienfeste, bei denen es recht heiter zugehen durfte. Wechseln wir die Perspektive ein weiteres Mal, so stehen wir vor einer schier unüberschaubaren Menge an Kompositionen für die während des Kaiserreichs allerorten wie Pilze aus dem Boden sprießenden Männerchöre, die über Liebe und Wein sangen und natürlich über ihre Heimat – dass manche unserer Zeitgenossen wahrscheinlich geneigt wären, einige der Texte mit Triggerwarnungen zu versehen, kann man sich gut vorstellen – allerdings: Wie alles andere sind sie Teil eines aus der jeweiligen Zeit heraus erklärbaren komplexen Phänomens, mit dem umzugehen denselben Respekt erfordert, wie wir ihn auch aufbringen, wenn wir uns an einer bunten und vielfältigen Gesellschaft erfreuen. Das Verlagsprogramm des Hauses André jedenfalls ist eines der buntesten und vielfältigsten überhaupt – mit einer gewissen Erleichterung dürfen wir schließlich zur Kenntnis nehmen, dass die Ideologie der Nazi-Diktatur in der Verlagsproduktion keine bemerkenswerten Spuren hinterlassen hat.